S ommerferien in einem europäischen Land, in dem der Durchschnittsverdienst bei 700, die Durchschnittsrente bei 320 Euro liegt, die Preise aber durchaus mit deutschen Preisen zu vergleichen sind. Wie kommen die hier bloß über die Runden? Die Menschen sind ordentlich (zum Teil elegant) gekleidet, man sieht einander ins Gesicht, junge Leute stehen im Bus für die Älteren auf, nahezu jedermann hält sich beim Gähnen die Hand vor den Mund, nirgends liegt Müll.
Vielleicht gibt es hier Verzweiflung, Elend – im Privaten. Auf den Straßen sieht man sie nicht. Was mich zu der Frage bringt, warum es im reichen Deutschland so anders ist: Warum so viele so unglaublich verdrossen sind – und warum die deutsche Hauptstadt immer mehr an den versifften Boden eines Müllcontainers erinnert.
Deutschland hat 2018 fast eine Billion Euro – 1000 Milliarden! – für Sozialleistungen ausgegeben. Das ist nahezu ein Drittel des Bruttoinlandsprodukts. Stolz ist auf diese gigantische Leistung niemand, glücklich macht sie anscheinend auch kaum jemanden.
Die Wirtschaftsvertreter jammern wie immer über die schreckliche Auspressung durch den Staat – ohne zu berücksichtigen, wie sehr sozialer Frieden ihren Geschäftsmodellen nützt. Und die Sozialverbände, die Linke und Teile der verzwergten Sozialdemokratie finden natürlich nie, nie, nie, dass es genug ist.
Vielleicht liegt es ja gar nicht (in erster Linie) am Materiellen? Vielleicht besitzen die formal armen Balten innere Werte, Maßstäbe und die Fähigkeit zur Anstrengung, die uns individuell und kollektiv verloren gehen?
Vielleicht wäre es ein Weg aus der deutschen Depression, wenn die Einzelbürger sich mit der Liebe, mit Erziehung und Gemeinsinn mehr Mühe geben würden als mit Erbschaftsstreitigkeiten und Konsum?
Und wenn sich die Regierung nicht immer nur nach neuen Möglichkeiten für Sozialausgaben umsähe, sondern in das investieren würde, was keiner von uns allein bezahlen kann: ordentliche Schulen, guten öffentlichen Verkehr, Sicherheit im Dunkeln, saubere Städte, erschwingliche Wohnungen, Schwimmbäder, Parks, Internet? In Vilnius (und Riga und Tallin) scheint das zu gehen, rätselhafterweise.
Der Maschinenbau zählt mit gut einer Million Beschäftigten und einem Produktionswert von 225 Milliarden Euro zu den wichtigsten Wirtschaftszweigen des Landes. Nun zeichnet sich immer bedrohlicher eine heraufziehende Krise ab.
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