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Bärlauch, Giersch und Gundermann: Anne Schmidt-Luchmann sucht in Berliner Parks nach Wildkräutern – und immer mehr Menschen wollen dabei sein.
Die Beschäftigung mit Wildkräutern, die in unserer direkten Umgebung auf Wiesen und Äckern wachsen und züchterisch nicht bearbeitet sind, erfährt gerade einen neuen Aufschwung. In Berlin kochen immer mehr Restaurants nach dem Farm-to-Table-Konzept und bringen Blüten und Wildkräuter auf die Teller – wie das Café Botanico in Neukölln. Influencer posieren in Kornfeldern und auf Blumenwiesen statt im Großstadtgetümmel. Bloggerinnen, die über Hopfenblüten und Holunderdolden schreiben, haben auf Instagram Tausende Follower.
Doch für die Berlinerin Anne Schmidt-Luchmann ist das Thema mehr als ein hipper Hype. Sie beschäftigt sich seit ihrer Jugend mit Wildkräutern, das Sammeln von Giersch und Gundermann gehört für die 38-Jährige zum Alltag. Vom Trend profitiert auch sie: Immer mehr Menschen melden sich für ihre Wildkräuterwanderungen durch Berlin an. Jetzt hat sie zusammen mit ihrem Mann Paul, der in einem Supper Club in Friedrichshain Fine-Dining-Gerichte mit Wildpflanzen kocht, ein Buch herausgebracht. In „Wilde Stadt“ finden sich Rezepte wie Hopfenblätter im Bierteig oder Löwenzahnblüten-Parfait mit Bienenpollen. Die Zutaten dafür wachsen in Berlins Parks und Wäldern.
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Berliner Zeitung: Frau Schmidt-Luchmann, wir haben September, die warmen Sommertage sind vorbei. Welche Wildkräuter sammelt man jetzt gerade so? Anne Schmidt-Luchmann: Man kann zum Beispiel die Samen der Knoblauchsrauke ernten und daraus Senf machen. Ich hab da mal draufgebissen und gedacht: Krass, das schmeckt ja viel besser als Senf! Generell finden unsere Berliner Wildkräuter es ganz gut, dass die heiße, trockene Zeit vorbei ist. Für sie fängt im Herbst quasi der zweite Frühling an, viele Pflanzen wie Vogelmiere, Löwenzahn oder Spitzwegerich wachsen viel besser, wenn es nasser und kühler ist. Auch der Giersch treibt noch mal aus.
Giersch? Das ist doch der Unkraut-Albtraum jedes Gärtners! Dazu habe ich natürlich eine andere Meinung, aber ich habe auch keinen Garten. Ich liebe Giersch, er ist wahnsinnig lecker und vielseitig einsetzbar. Seine Nährstoffdichte macht ihn zu einem der wertvollsten Wildkräuter überhaupt, vor allem was Vitamin C und Kalium angeht. Ich mache gern Smoothies daraus, mag den kräftigen Gemüsegeschmack, der an Möhre, Pastinake und Petersilie erinnert, aber auch in Salaten oder asiatischen Wok-Gerichten. Es gibt auch immer mehr Gärtner, die Giersch schätzen und ihn einfach essen, wenn er jung ist. Der Vorteil: Er samt sich dann über die Dolden nicht weiter aus. Aber klar, viele Gärtner hassen den wuchernden, tief wurzelnden Giersch. Dabei sollte man einfach das Beste draus machen – Pesto zum Beispiel.
Bei Wildkräutern denke ich an Frauen mit Körben, die auf Alpenwiesen frisches Grün pflücken, aber nicht an Berliner Parks und Straßenränder. Wie geht das zusammen – Stadtleben und das Sammeln von Wildkräutern? Ich habe meine Ausbildung im Allgäu gemacht, daher kann ich das Bild schon nachvollziehen. Aber ich bin da pragmatisch, als Berliner Pflanze lebe ich nun mal hier und nutze das, was hier wächst. Natürlich kann man nicht überall sammeln. Die Böden sollten nicht gedüngt oder mit Pestiziden belastet sein, die Grünflächen nicht zu oft gemäht werden, sonst wächst da nichts. Man muss sich einfach ein bisschen umschauen, dann findet man in Berlin eigentlich fast alles, was auch auf der Almwiese wächst. So schlecht ist die städtische Umgebung übrigens gar nicht. Auf dem Land herrscht oft Monokultur, es wird gespritzt und es gibt unglaublich viele Hunde und Wildtiere.
Anne Schmidt-Luchmann, 38, ist gebürtige Berlinerin und lebt mit ihrem Mann in Friedrichshain. Sie absolvierte eine Meisterausbildung in Europäischer Heilpflanzenkunde bei Susanne Fischer-Rizzi im Allgäu und einen Wildkräuter-Kochkurs bei Meret Bissegger im Tessin. Seit 2012 ist sie Wildkräuter-Dozentin in den Bereichen Heilen, Kochen und Kosmetik. Regelmäßig führt sie Interessierte durch Berliner Parks. Das Buch „Wilde Stadt. Urbane Wildkräuterküche“ von Anne Schmidt-Luchmann und Paul Schmidt ist im Verlag ars vivendi erschienen, hat 240 Seiten und kostet 32 Euro. Es enthält vier Rezeptkapitel von Frühling bis Winter, Rezepte zu Kräutersalzen und -ölen, Eingemachtem und Sirupen. Außerdem gibt es eine Einführung in die Besonderheiten der Wildkräutersuche in der Stadt. Für geführte Wildpflanzenwanderungen mit Anne Schmidt-Luchmann kann man sich online anmelden: www.anneskraeuter.de
Bei Ihren Wildkräuterführungen durch Berlin, wo sind Sie da unterwegs – und was sammeln Sie? Den Treptower Park und speziell den Teil um das Sowjetische Ehrenmal kann ich nur empfehlen. Anfangs war ich immer nervös, ob wir wirklich etwas finden mit den Leuten, aber das war unbegründet. Der Park ist sehr groß und sehr alt, da habe ich keine Bedenken, was Schadstoffe angeht. Die Grünpflege dort ist eher zurückhaltend, was ich sehr begrüßenswert finde. Diese kurz rasierten Rasenflächen sind doch absurd. Stattdessen wird mehr Wildwuchs zugelassen, was auch Insekten und dem Stadtbild zugutekommt. Im Park kenne ich eigentlich alle Pflanzen, wir sammeln da Gundermann, Giersch, Löwenzahn, wilden Thymian oder Scharfgarbe. Immer wieder finde ich dort besondere Pflanzen und freue mich darüber.
Sind die Kräuter nicht viel zu verunreinigt? Was ist mit Hundedreck, Müll und Abgasen? Wie gesagt, Hundedreck gibt es überall. Und was Abgase angeht, dann könnte man ja auch keine Getreideprodukte essen: Die Kornfelder erstrecken sich gern entlang der Autobahn. Alle Wildkräuter, die ich sammle, wasche ich zu Hause in einer Natronlauge, eine Geheimwaffe gegen Umweltkeime aller Art auf Pflanzen und Früchten.
Wer nimmt an Ihren Führungen teil? Das ist total gemischt. Man denkt vielleicht, dass nur Rentner solche Kräuterwanderungen buchen, aber wir haben einen großen Anteil an jungen Leuten, auch viele Köche und Patissiers nehmen teil.
Gibt es Kräuter, die in Berlin besonders gut sind? Ja, zum Beispiel Wunder-Lauch, der auch Berliner Bärlauch genannt wird, weil er vermehrt in Berlin und dem Umland zu finden ist. Der wächst hier total gut, er mag die sandigen Böden und die hiesigen Wälder. Und weil er sich viel stärker ausbreitet als der normale, geschützte Bärlauch, kann man ihn in großen Mengen sammeln. Auch wilden Rucola gibt es häufig in Berlin, den kann man auch toll ernten.
Ich könnte auch in den Supermarkt gehen und dort Rucola kaufen. Was ist der Vorteil einer wilden gegenüber der kultivierten Pflanze? Beim Rucola zum Beispiel ist die wilde Form viel schärfer und kräftiger im Geschmack. Das gilt eigentlich für alle Wildkräuter. Weil die Pflanzen sich viel mehr wehren müssen, der Witterung stärker ausgesetzt sind und keinen Gärtner haben, der sie gießt, entwickeln sie mehr Kraft und damit auch mehr Nährstoffe und Geschmack.
In Ihrem Kochbuch müsste ich viele Zutaten – Melde, Knopfkraut, Gundermann oder Beinwell – erst mal googeln. Ich fürchte auch, ich könnte sie am Ende mit etwas Ungenießbarem oder gar Giftigem verwechseln. Wenn man unsicher ist, hilft es tatsächlich, erstmal eine geführte Wanderung mitzumachen. Außerdem gibt es inzwischen wirklich sehr gute Pflanzenerkennungs-Apps wie PlantNet oder Flora Incognita. Ansonsten ist es wie bei Pilzen: Man sollte die giftigen Sorten kennen und nur Sachen sammeln, die man auch sicher bestimmen kann.
Was bei Löwenzahn und Gänseblümchen vielleicht auch nicht so schwer ist. Pflanzen wie diese erfahren gerade regelrechte Revivals. Wie erklären Sie sich den Wildkräuter-Hype? Da ich schon so lange an diesem Thema dran bin, kann ich nur mutmaßen. Dass die Großstädter Sehnsucht nach der Natur haben. Dass sie in einem zunehmend komplexer und komplizierter werdenden Leben Lust auf etwas Einfaches haben, auf „Jagen und Sammeln“, eine befriedigende Tätigkeit. Dazu kommen der gute Geschmack und der Gesundheitsaspekt. Mein Mann ist als Koch zum Beispiel immer auf der Suche nach besonderen Aromen, die man nicht im Supermarkt kaufen kann.
Und wie sind Sie zum Sammeln gekommen? Ich hatte schon immer eine Affinität zu wilden Kräutern, zum Umherstreifen, Sammeln, Bröseln und Kochen. Meine Mutter ist Heilpraktikerin, sie zog mit mir auch eine Zeitlang aufs Land, wo ich sehr naturverbunden aufwuchs. Die Ausbildung meiner Mutter hatte nicht den besten Ruf und steht auch heute noch im Verdacht, zu esoterisch zu sein, daher dachte ich, ich studiere Psychologie und schaffe ein „ernsthaftes“ Fundament. Doch irgendwann merkte ich, das ist nichts für mich, und begann meine Ausbildung im Allgäu, wo ich alles über Heilpflanzen und Heilkräuter lernte. Und nun ist das mein Beruf.
Stehen Sie als Wildkräuter-Dozentin nicht auch im Verdacht, zu esoterisch zu sein oder zu nah an der Homöopathie? Homöopathie ist nicht meins, und natürlich würde ich bei einer ernsthaften Erkrankung zum Arzt oder ins Krankenhaus gehen und nicht mit Hausmitteln experimentieren. Aber warum soll man nicht jahrhundertealtes Wissen nutzen und eine Hausapotheke haben, in der eine selbst gemachte Erkältungssalbe steht, die ohne Erdöl und anderen Schnulli auskommt? Mir hat bei schweren Unterleibskrämpfen mal eine Teekur mit Schafgarbe geholfen, nachdem kein anderes, klassisches Medikament angeschlagen hatte.
Verraten Sie uns abschließend noch, welches Wildkraut auch Anfänger gefahrlos probieren können? Löwenzahn kennt jeder, da kann man beim Sammeln nichts falsch machen. Man kann auch alle Bestandteile verwenden. Wir haben für ein Rezept die Knospen in der Pfanne angeröstet, die Stängel in Eiswasser gelegt, sodass sie sich schön kringeln, nachher auch die Blätter angerichtet. Ich mag den zartbitteren Geschmack sehr gern – gerade in der Kombination mit einem cremigen Senfdressing ein absolutes Lieblingsgericht.
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