Der NABU weist auf einen deutlichen Rückgang der Bestände an Singvögeln auch im Kreis Gießen hin. Eine Hauptursache liege in der Landwirtschaft. »Die Kommunen sollen genauer hinschauen, was mit der Landschaft draußen passiert«, sagt Tim Mattern vom NABU-Kreisverband und nimmt die lokale Politik in die Verantwortung.
Herr Mattern, der NABU spricht von einem »dramatischen« Rückgang des Bestands an Singvögeln im Kreis Gießen. Können Sie diese Entwicklung an Zahlen festmachen?
Zwei Beispiele: Bei der Amsel stellen wir ein sehr durchwachsenes Bild fest. In der Heckenlandschaft am Unteren Knappensee bei Utphe hat der Bestand zwar leicht zugenommen, in anderen Gebieten aber wie in Gießen rund um die Teiche und die Parklandschaft der Wieseckaue hat sich die Zahl halbiert, von 29 Brutpaaren im Jahr 2007 auf zwölf im Jahr 2019.
Der Sumpfrohrsänger ist nicht besonders anspruchsvoll, was sein Bruthabitat angeht, ihm reichen Brennnesselpflanzen oder Hochstauden an einem Bach oder am Wegesrand. Um die Jahrtausendwende haben unsere Ornithologen rund 200 Brutpaare im Kreis Gießen gemeldet. Heute sind wir nur noch bei fünf. Seit 1975 sind im Kreisgebiet acht Brutvogelarten ausgestorben, bei weiteren vier stehen wir kurz davor.
Um welche Vogelarten handelt es sich?
Zwei Vogelarten sind betroffen, die hier früher stark verbreitet waren. Zum einen die Schleiereule, deren Bestand nach kalten Wintern zwischen 2011 und 2013 fast völlig zusammengebrochen ist. Nach zwölf Jahren müsste sie eigentlich wieder etwas häufiger zu finden sein, aber sie kehrt nicht zurück. Auch das Braunkehlchen, ein typischer Wiesenvogel, ist im Kreis nahezu ausgestorben. Dann sind es noch der Gelbspötter und der Wiesenpieper. Auch bei heimischen Schwalbenarten, dem Mauersegler, bei Feldsperling, Goldammer, Girlitz und anderen ist die Situation dramatisch.
Der Rückgang der Singvogelbestände hängt mit dem Insektensterben zusammen, den Vögeln fehlt zunehmend Nahrung. Der NABU gibt dafür hauptsächlich den Landwirten und deren Einsatz von Unkrautvernichtern wie Glyphosat die Schuld.
Ich möchte ungern auf den Landwirten rumhacken. Ich bin selbst studierter Landwirt. Das Problem liegt eher in der Politik, die die Entwicklung falsch steuert, und in der Agrarindustrie, die den Landwirten Dinge aufschwatzt, die sie eigentlich gar nicht brauchen.
Was wird den Landwirten denn aufgeschwatzt?
Technik und Spritzmittel. Der Grund, dass wir unsere Appelle vor allem an die Landwirte richten, liegt aber schlicht darin, dass ein Drittel der Fläche in Deutschland von der Landwirtschaft genutzt wird. Sie spielt deshalb eine sehr bedeutsame Rolle.
Und Sie fordern vor diesem Hintergrund deutlich weniger Einsatz von Glyphosat in der Landwirtschaft.
Wenn Glyphosat in der Vergangenheit immer so verantwortungsbewusst eingesetzt worden wäre, wie es viele Landwirte behaupten, also einmal in der Fruchtfolge alle drei Jahre vor einer bestimmten Kultur, dann hätten wir die Diskussion nicht. Das Mittel wird immer wieder an Stellen angewendet, wo es nicht passieren sollte. Getreide wird hin und wieder gezielt totgespritzt, damit es gleichmäßiger abreift und der Landwirt den Erntezeitpunkt so genauer festlegen kann.
Ist der Verlust von Ackerflächen, also die Versiegelung für Straßen, Wohngebiete und Gewerbeansiedlungen nicht das viel größere Problem im Zusammenhang mit dem Insektensteben und dem Vogelschwund?
Es ist auf jeden Fall auch ein schwerwiegendes Problem. Gerade wenn in Randbereichen von Städten und Gemeinden gebaut wird. Da haben wir ja häufig die abwechslungsreichsten Kulturlandschaften. Wo sind denn die Obstwiesen? Die befinden sich rund um die Orte herum. Und dort wird dann gebaut. Da gibt es natürlich einen immensen Verlust an Lebensraum für Insekten und Vögel. Aber eigentlich könnte es genug Lebensraum geben, wenn nicht in den vergangenen Jahrzehnten diese ganzen Kleinstrukturen auf den Feldern so radikal beseitigt worden wären. Stattdessen werden mit Blühstreifen die Strukturen nun künstlich nachgebaut.
Ja, manchen Insektenarten. Honigbienen zum Beispiel können so gut wie jede Blume anzapfen. Aber es gibt hunderte Wildbienenarten bei uns, darunter viele Spezialisten, die auf ganz bestimmte Pflanzen angewiesen sind, ihnen helfen Blühstreifen nicht.
Blühstreifen gibt es inzwischen in vielen Orten im Kreis. Sollte daran etwas geändert werden?
Man könnte sich als Kommune einfach wieder stärker um die Randflächen von Äckern bemühen. Dass auf den öffentlichen Wegen wieder mehr heimische Pflanzen wachsen. Das käme den vielen Spezialisten in der Tierwelt zugute.
Sie nehmen beim Vogelschwund hauptsächlich die Landwirtschaft in die Verantwortung, aber spielt beim Vogelschwund nicht auch maßgeblich der Klimawandel eine Rolle?
Beim Vogel- und Insektensterben reden wir ja über die Masse, die zurückgeht. Der Klimawandel führt eher zu einer Artenverschiebung. Da gibt es Arten wie den Trauerschnäpper, die verschwinden allmählich, weil sie es kühler brauchen. Stattdessen siedeln sich Arten aus dem Mittelmeerraum an. Der Bienenfresser zum Beispiel ist zunehmend in der Region anzutreffen.
Und welche Rolle spielt beim Insektensterben die Lichtverschmutzung?
Mit diesem Thema beschäftige ich mich tatsächlich erst seit einem Jahr etwas intensiver. Ich muss gestehen, dass ich den Faktor ein bisschen unterschätzt habe, obwohl er eigentlich wesentlich ist. Es gibt gerade bei den Insekten so viele Arten, die auf die Dunkelheit angewiesen sind. Eigentlich sollten wir, um Energie einzusparen, weniger beleuchten. Aber dadurch, dass LED-Lampen nicht so viel Energie verbrauchen, wird viel mehr und auch anders, mit neuen Wellenlängen beleuchtet. Die Lichtverschmutzung hat natürlich Einfluss.
Wenn Sie die Landwirte in die Verantwortung nehmen, die ja unter einem wirtschaftlichen Druck stehen: Wie sollen diese dazu gebracht werden, weniger Pestizide einzusetzen?
Förderprogramme müssten entsprechend umgestaltet werden. Der Ökolandbau könnte stärker gefördert werden. Vielleicht wäre auch eine Art Öko light eine Lösung, eine Förderung also bei gleichzeitiger Reduzierung bestimmter Stoffe. Auf EU-Ebene wird immer davon gesprochen, dass die kleinen bäuerlichen Familienbetriebe gestärkt werden sollen. Aber bisher haben die Fördermechanismen immer dazu geführt, dass vor allem die Großbetriebe profitiert haben.
Und was können Kommunen gegen das Insektensterben und den Vogelschwund tun?
Städte und Gemeinden haben häufig Flächen, die sie an Landwirte verpachten. Man muss ja nicht immer alles verbieten. Aber die Kommunen könnten das Gespräch mit den Landwirten suchen und fragen, was diese zugunsten der Natur auf ihren Äckern anders machen könnten. Überhaupt sollten die Kommunen mal genauer hinschauen, was mit der Landschaft draußen passiert. Wenn öffentliche Feldwege von Landwirten vereinnahmt werden, muss man diesen auch mal auf die Füße treten. Die Politik ist auf allen Ebenen gefragt, wie die Landwirtschaft als einer der größten Flächennutzer künftig gesteuert wird, welche Anreize gesetzt werden. Und natürlich können wir auch selbst etwas tun.
Es sind manchmal auch die kleine Dinge. Muss ich zum Beispiel ständig mein Hoflicht eingeschaltet haben? Oder setze ich einen Bewegungsmelder ein? Habe ich einen Schottergarten oder blühen bei mir heimische Blumen? Ein wesentlicher Punkt aus meiner Sicht ist außerdem: Wir müssen mehr Unordnung aushalten. Nicht nur bei den Landwirten, sondern auch im privaten Bereich: Ruhig mal ein Gestrüpp stehen lassen.